Veranstaltungen zur Suchtprävention: Jeder Einzelne zählt
Seit über 30 Jahren arbeitet die gelernte Krankenschwester im Suchtbereich auf der Sation 06/7 des LWL-Klinikums Marsberg. Regelmäßig begleitet sie Veranstaltungen zum Thema Suchtprävention. Schulklassen aus beispielsweise Warburg, Medebach oder Winterberg besuchen das LWL-Klinikum Marsberg. Patientinnen und Patientinnen, die möchten, berichten über ihre Sucht in einer Runde. Ilona Wolf berichtet über ihre Erfahrungen.
„Da sitze ich nun. Mal wieder. Suchtprävention. Ich kann mich nicht daran erinnern, die wievielte Veranstaltung es mittlerweile ist, an der ich teilnehme. Gemeinsam mit Patient:innen und Kolleg:innen des Präventionsteams sitze ich im Festsaal vor der Bühne: gegenüber von rund 70 Schüler:innen und den Lehrkräften.
Im Laufe der Jahre hat sich die Art, wie Prävention stattfindet, gewandelt. Früher gab es viele PowerPoint-Präsentationen. Heute sitzen wir in einer offenen Runde. Die jungen Menschen bestimmen selbst Themenschwerpunkte und das Maß an Informationen, die sie am Ende mitnehmen.
Die Patientin neben mir wird nervös und beginnt auf ihrem Stuhl aufgeregt hin und her zu rutschen. Gedankenflut im Kopf. Und Fragezeichen: werden Fotos von der Veranstaltung veröffentlicht? Leichte Panik und Irritation ist in ihren Augen zu erkennen. Die Versicherung, dass die Bilder nicht den Weg in die Öffentlichkeit finden, beruhigt und sie schafft es, wieder durchzuatmen.
Der andere Patient, der sich ebenfalls freiwillig bereit erklärt hat an der Veranstaltung teilzunehmen, scheint mit solchen Gedanken weniger Schwierigkeiten zu haben: in gewohnter Manier präsentiert er sich und erzählt aus seinem Leben. Das ist geprägt von Kriminalität, Knast und Kokain. Er erhebt den mahnend den Zeigefinger: “„Bro, lasst den Sch*** sein und packt das Dreckszeug nie an.“
Ich bin dankbar für die direkte und freie Art, die da an den Tag gelegt wird. Es ist vielleicht nicht meine Sprache, aber sie trifft den Nerv der Schüler:innen.
Die Reaktion der Teenager zu beobachten, ist interessant. Eine Mischung aus Betroffenheit und Abwehr, aus Empathie und Entsetzen. Und Faszination. Manche Jungs hängen förmlich an den Lippen des männlichen Patienten, zu interessant sind seine true crime stories.
Zuviel Faszination. Und Eigenanteile vielleicht.
Eine junge Schülerin ist gebannt von den Konsumgeschichten des Users: je riskanter und brisanter die Inhalte erscheinen, desto mehr scheint sie in deren Sog zu geraten.
In der letzten Reihe sitzt ein Schüler, der einen betroffenen Eindruck macht. Betroffen im Sinne von Selbsterfahrungen.
Die Fragen des Präventionsteams nach eigenen Konsumerfahrungen im Sinne von Vape (E-Zigarette) rauchen oder auch andere Substanzen einnehmen, wird eher zögerlich bis gar nicht von den Schüler:innen beantwortet. Nachdem die pädagogischen Fachkräfte sich kurzfristig dazu entschließen, den Festsaal „auf einen Kaffee“ zu verlassen, kommt Bewegung rein. Und siehe da: es gibt bereits Erfahrungen der Schüler:innen mit verschiedenen Substanzen und auch mit Angehörigen oder Freunden, die bereits selbst durch Konsum aufgefallen sind. Oder wo sogar bereits Abhängigkeitserkrankungen bestehen.
Ich kann verstehen, was in einigen Köpfen und Seelen gerade rumpelt – weil ich im weitesten Sinne selbst betroffen bin. Ich habe gelernt damit umzugehen. Und offen darüber zu sprechen.
Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von der alkoholabhängigen Mutter. Meine Belastung und den Absturz meiner Leistungen dadurch in der Schule damals, dem fehlenden Auffangnetz, meiner Hilflosigkeit und auch den Bemühungen den schönen Schein nach außen weiterhin wahren und aufrecht erhalten zu können. Es ist erfreulich zu erleben, dass die Welt deutlich offener geworden ist in vielerlei Hinsicht, das Sucht kein Tabuthema mehr ist. Dass das Hilfesystem besser aufgestellt und erreichbar ist für den, der selbst betroffen ist, unabhängig davon in welcher Hinsicht. So ein Suchthilfesystem, wie wir es heute kennen, hat es zu meiner Kinder- und Jugendzeit nicht gegeben. Das hätte ich mir gewünscht und erhofft, weil es mir vielleicht geholfen hätte, auf meinen Weg ins Erwachsenwerden.
Zwar ist Sucht kein Tabuthema mehr aber es herrscht eine gewisse Doppelmoral. Eine Patientin merkt auf einer der Veranstaltungen an, dass öffentliche Werbung für Alkohol und Tabak verboten ist, aber in Filmen und Serien subtil und eingängig stattfindet, wenn der Darsteller sein Glas Whisky zum Feierabend trinkt, um sich zu entspannen oder der Inspektor die Pfeife lässig im Mundwinkel hängen hat.
Die Vapes, die fröhlich bunt und harmlos fruchtig suggerieren, dass sie in keiner Weise gesundheitsschädlich sein könnten…Zugeschnitten auf die Punkte, die die Jugendlichen zum Gebrauch triggern.
Sucht wird es immer geben. Unabhängig von Herkunft und was jemand in seinem Leben macht.
Wir dürfen lernen damit umzugehen und zuzulassen, damit Betroffene den Mut haben, sich zu zeigen und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Die Rückfallquote bei Abhängigkeitserkrankten ist bekanntlich hoch. Wichtiger als Zahlen und Quoten sind jedoch die Menschen, die sich nicht aufgeben, die ihre chronische Erkrankung erkennen und akzeptieren, aber dennoch ins Handeln kommen. Jeder Einzelne zählt. Die Prävention als eine positive Erfahrung anzunehmen und der Wunsch, vielleicht auch nur einen Teilnehmenden mit den Erfahrungen erreicht zu haben, damit derjenige sich selbst eine Sucht ersparen kann. Oder Hilfe erhält. Das macht die präventive Arbeit sinnvoll und gibt Hoffnung.
Und auch die Patient:innen profitieren mit ihrer Teilnahme, weil es ihnen nochmal vor Augen führt, was geschehen ist und was es mit ihnen gemacht hat – und weshalb sie den Schritt in die Entzugsstation gewagt haben. Sie sind die eigentlichen Expert:innen.
Wir wünschen ihnen alles Gute und viel Erfolg. Und uns als Team die Motivation weiter am Ball zu bleiben. Vielen Rückschlägen und Quotenschwäche zum Trotz."
Interesse an einer Veranstaltung zum Thema Suchtprävention?
Prävention ist der beste Schutz. Im Dialog mit Patient:innen erfahren Schüler:innen aus erster Hand, was es bedeutet, süchtig zu sein.
Authentisch. Ehrlich. Ungeschönt. Berührend.
Die Patient:innen berichten aus ihrem Leben. Wie sich aus dem anfänglichen Rausch schleichend die Sucht entwickelt. Fast alle Biografien tragen Geschichten des Verlusts in sich: Beziehung weg. Familie weg. Job weg. Gesundheit weg.
Die Geschichten aus dem Mund von Betroffenen zu hören, besitzt dabei eine ganz besondere Qualität, die den Zuhörer:innen unter die Haut geht und lange im Gedächtnis bleibt.
In der Veranstaltung geht es nicht darum mit dem erhobenen Zeigefinger zu drohen, sondern um einen Austausch auf Augenhöhe. Sucht ist eine Erkrankung, die jeden Menschen zu jeder Zeit treffen kann. Eine Erkrankung, die für das gesamte Leben bleibt.
Rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns eine E-Mail, wenn Sie an einer Veranstaltung interessiert sind.
Hermann-Josef Emmerich
Pflegerische Leitung der Station 06/7 zur qualifizierten Entgiftung von Drogen

